Wissen als Form
kollektiver Geistesgegenwart - Thesen
2020
Thesen zur Beziehung von Politik,
Wissenschaft und Medien
Die Gesellschaft der Gegenwart
reflektiert und organisiert sich überwiegend in vereinzelten
Gefahrendiskursen, die vom Gestus größter Dringlichkeit geprägt
sind.
Mit der postulierten Eile der
Gefahrenabwehr steigt auch die Beschleunigung der Diskurse, in
denen sich Medien, Politik und Wissenschaft gegenseitig durch
die gegenwärtigen Formen wissenschaftlicher Politikberatung und
durch die Verschränkung von medialer und politischer
Kommunikation befeuern.
Abwägung, Prüfung, die
Neubewertung von Erfahrung, die Suche nach Alternativen und die
Kritik der im Diskurs gebrauchten Sprache brauchen Zeit. Die
gegenwärtigen Diskurse stellen diese Zeit nicht zur
Verfügung1.
Wird Politik von
Gefahrendiskursen getrieben, verliert sie an Qualität und wird
hinsichtlich der demokratischen Spielregeln der Willensbildung
geschwächt.
Infolge der Umweltdebatten der
achtziger Jahre hat sich in der Wissenschaftspolitik bei der
Gefahrenbetrachtung ein Modell des „konsensualen
Wissens“2 durchgesetzt, das einen Korridor der zu
berücksichtigenden Positionen definiert. Argumente jenseits
dieses legitimierten Korridors werden ausgesondert, da sie das
politische Handeln zu verzögern scheinen.
Das Modell des konsensualen
Wissens hindert abweichende Sichtweisen daran, ihren Beitrag
zur Wissensentwicklung zu leisten, grenzt Widersprüche und
Fragen aus, verspielt die Ressource des eigenständigen Denkens
und stiftet einen erzieherischen Gestus in Medien, Wissenschaft
und Politik.
Nicht nur die etablierte
Wissenschaft, auch die tägliche Erfahrung erzeugt Wissen, das
in den gegenwärtigen bildungs-, umwelt-, agrar- und
gesundheitspolitischen Diskursen kaum genutzt
wird.
Die gesellschaftliche
Wissensorganisation hat die Aufgabe, kollektive
Geistesgegenwart zu erzeugen, sodass mehr Menschen etwas zum
Gelingen der Gesellschaft und zum Umgang mit Risiken beitragen
können. Zur Verbesserung des Zusammenspiels von Wissenschaft,
Medien und Politik in den Diskursen sollten drei einfache
Grundsätze genügen:
Es sollte gezielt in Diskurse
investiert werden, die nicht im Gefahrenmodus organisiert
werden.
Es gibt viele kluge Menschen, die
niemand fragt: Es sollten Formen kollektiver Wissensproduktion
gefördert werden, die von der Beschreibung praktischer
Erfahrung ausgehen und die kommunikative Verknüpfung
vielfältiger Sichtweisen erproben.
In jedem guten Streit steckt ein
Einvernehmen: Statt vom Konsens sollten die wissenschaftlichen
Debatten von möglichst interessanten divergierenden Argumenten
aufgebaut werden.
1 „Die Unbekümmertheit
in der Wortwahl und das mangelnde Gespür für folgenreiche
Theorieentscheidungen sind eines der auffälligsten Merkmale
dieser Literatur – so als ob die Sorge um die Umwelt die
Sorglosigkeit der Rede darüber rechtfertigen könnte.“ Luhmann,
N. (2008): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne
Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? 5.
Aufl. Wiesbaden, S. 8.
2 Der Begriff in
seiner vollen programmatischen Entfaltung findet sich in:
Bechmann G, Stehr N (2004) Praktische Erkenntnis: Vom Wissen
zum Handeln. In: BMBF (Hrsg.) Vom Wissen zum Handeln? Die
Forschung zum Globalen Wandel und ihre Umsetzung. Bonn, Berlin,
S 27–30